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Bildquelle: JVE [CC BY-SA 0], via Wikimedia Commons (Bild bearbeitet)
Vor paar Tagen auf dem Friedhof in meinem thüringischen Heimatdorf: Der Himmel ist grau, aber in mir scheint die Sonne. Ein älterer Basecap-Mann, der sich gerade eben noch vergewisserte, dass ich hier tatsächlich was zu suchen habe, schenkt mir einen anerkennenden Blick. Der ist wohl den Union-Logos auf meiner Regenjacke und meiner Hose geschuldet. Ohne jede Spur von Häme deute ich auf die Raute an seiner Kappe: „Meinste dit ernst?“
„Hör mir uff!“, winkt er ab, bevor er mir zunickt: „Aber dass ihr uffjestiejen seid, darüber hab ich mich echt jefreut. Das habter ehrlich verdient.“ Und schon war da wieder dieses irre Bauchkribbeln, welches mich seit jenem Montag-Abend Ende Mai begleitet wie ein leichter, heiterer Rausch …
Gut zwei Stunden hatten wir um unser Leben gebrüllt. Gerade so, als könnten wir – sollten plötzlich doch noch alle Stricke reißen – allein mit unseren Gesängen den Ball daran hindern, die Torlinie hinter Rafal Gikiewicz zu überwinden. Nie zuvor erlebte ich unser Stadion derart in Lärm getaucht. Der kam nicht etwa von einer hochmodernen Beschallungsanlage. Es waren die Stimmen jener etwa 20.000 Unioner, die an jenem Abend eine Karte fürs Wohnzimmer ergatterten und daselbst alles an Stimmgewalt hergaben, was ging.
Trug auch diese irre Geschlossenheit auf den Rängen dazu bei, dass die 160,20 Millionen Euro Marktwert im Dress des VfB Stuttgart so gar nichts ausrichten konnten gegen eine im wahrsten Sinne Eiserne Union-Mannschaft? Das bessere Team siegte mit 0:0 und erfüllte damit den Traum etlicher Unioner-Generationen: „Und so zogen wir in die Bundesliga ein …!“
Wer von uns hätte zu Beginn jener Zweitliga-Saison 2018/19 gedacht, dass es genau so kommen würde? Ich auf gar keinen Fall. Gerade so hatten wir kurz zuvor das fern geglaubte Abstiegsgespenst aus Köpenick vertrieben. Zerschrammt und verbeult hatten wir nach „Scheiße, wir steigen auf“ zu „Mit aller Gewalt Klassenerhalt“ zurückgefunden. Würden die auf mehreren Positionen verjüngte Mannschaft, der neue Trainer, der Verein – wir alle unsere 10. Saison am Stück in der zweithöchsten deutschen Spielklasse bestehen?
Des Coachs Ausgeglichenheit immerhin machte mir Mut. Niemals vergesse ich seine 1. Pressekonferenz, jenen mit charmantem Schweizer Akzent vorgetragenen Satz: „Ich bin glücklich verheiratet!“ Das war nach all den gerade zurückliegenden Querelen wohl nicht nur für mich reinster Seelen-Balsam.
Rein ins Stadion: Arbeitssieg gegen Aue AdAF, gefolgt vom hart & erfolgreich erkämpften 1:1 beim Wiederaufstiegs-Mitfavoriten aus Köln. Weiter ging‘s, wir sangen, brüllten, lachten, litten – und die Mannschaft wirkte mehr und mehr sicher. Sie stürmten nicht mehr so beherzt (und mitunter verzweifelt) nach vorn, aber was war hinten los? Nach 11 Spieltagen hatten wir gerade mal 7 Tore kassiert! Und vor allem: Bekamen wir gerade sonst gegen Spielende „gern“ eins eingeschenkt, zeigte sich Union jetzt als Team der späten Treffer!
Dennoch fuhr ich zum Pokalfight nach Dortmund fast nur, weil meine Liebe mit der Frau meines in Castrop lebenden Schulfreunds Berge in den Herbstferien unserer Tochter einen Nussbückerschen Überraschungsbesuch im Pott angesetzt hatte. „Komm nicht ohne Karte!“, ließ mir Berge keine andere Wahl. Ehrlich, ich wollte eigentlich nicht! Was sollte unseren Auftritt dort zwei Jahre zuvor noch toppen? 12.000 Unioner in roten Jacken, mit der von uns sehr ernst genommenen Aufschrift: „Keine Wand ist unbezwingbar“!
Ich hätte mich in den Allerwertesten gebissen, wäre ich nicht dabei gewesen, als diesmal „nur“ 8.000 Unioner trotz überlautem 0815-Gedudel der Beschallungsanlage die Halbzeitpause durchsangen. Während des Spiels lieferten wir uns immer wieder beherzte Gesangsduelle mit der Gelben Wand. Unsere Mannschaft kam zweimal sensationell zurück, bevor … ähm, was da noch was?
Zurück im Liga-Alltag, hieß es drei Spieltage später EISERN TROTZ(T) HANDICAP. Zum 3. Mal ermöglichte der Trupp um Filip Schnuppe dank großzügiger Spenden aus dem Eisernen Universum geistig oder körperlich beeinträchtigten Unionern den Besuch eines Auswärtsspiels mit Speis, Trank & Kultur. Zumindest in meinen Augen als klarer Außenseiter fuhren und rockten wir über Parchim (an dieser Stelle ein Gruß an Parchims Eisernen Bürgermeister Dirk Flörke, der unsere Aktion maßgeblich unterstützte) nach Hamburg. Nein, nicht ans Millerntor, sondern ins Stadion des ehemaligen Erstliga-Dinos HSV.
Bei aller Häme und meiner bis zu jenem Tag ausgewachsenen Abneigung gegen diesen Verein muss ich hier sagen: Wie unser Tross von der HSV-Inklusionsbeauftragten Fanny Boyn, ihrem Team, ja dem gesamten Umfeld aufgenommen wurden, war menschlich wie organisatorisch echt 1. Liga!
Und ein bisschen tun mir die HSV-Anhänger hinterm Tor schon leid, wenn ihre Gesänge bei Auftritten von Dynamo Dresden oder uns immer wieder so gnadenlos übertönt werden. Unsere Mannschaft indes zeigte sich nach Führungstor, Ausgleich und Rückstand als abgezockt genug, sich und uns quasi mit dem Abpfiff den wohlverdienten Ausgleich zu schenken. An etwas wie den Ligawechsel nach oben mochte ich auch noch lange danach nicht denken – aber spätestens jetzt war mir klar: Union Berlin 2018/19, da kommt noch was!
Fortsetzung folgt
Wer: Jérôme Roussillon (32)
Wann:07.01.2025