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Bildquelle: Harleypaul on Tour [], (Bild bearbeitet)
Vor einer Woche stieg der 1. FC Union Berlin beim niederländischen Rekordmeister Ajax Amsterdam als klarer Außenseiter in den Ring. Ganze 6 Tage später konfrontiert ein Journalist Urs Fischer mit der Nachricht, dass Union bei den Buchmachern als Favorit gelte. So schnell kanns gehen im Fußball, doch Urs Fischer ist klug wie erfahren genug, darauf nichts zu geben. Unsere Mannschaft hatte auswärts sehr viel richtig gemacht. Mindestens das musste sie auch in unserem Wohnzimmer tun.
Urs tat gut daran, an seine Position vor der ersten Begegnung zu erinnern: Im Hinspiel ein solches Resultat erzielen, damit wir im Rückspiel AdAF überhaupt eine Chance aufs Weiterkommen haben. Nun müsste Union also „nur noch“ gewinnen, Zwinker-Smilie! Wie schön, dass bei der Pressekonferenz vorm Spiel auch Medien aus der Heimat unseres Cheftrainers anwesend waren. So konnte das Schweizer Fernsehen uns Urs von außen fragen, wie wichtig seiner Meinung nach wir Fans für einen eventuellen Erfolg seiner Mannschaft seien.
Es tat gut, den Trainer freundlich sagen zu hören, dass er den 1. FC Union Berlin als Familie empfinde. Das war keineswegs als Floskel gedacht. Viel mehr stellte er klar, dass er bei Union Berlin keine Trennung von Verein, Mannschaft und Fans erlebe: „Alle wirken zusammen! Das ist das Spezielle hier.“ Und speziell würde dieses Spiel auch für uns sein. War es doch das erste KO-Spiel in der Europa League seit über 21 Jahren, dazu das allererste daheim in unserem Wohnzimmer!
Ließ mich Urs Fischer vor dem Hinspiel an Max Schmelings prophetischen Satz: „Ich habe etwas gesehen!“ vor seinem ersten Duell mit dem unschlagbar scheinenden Favoriten Joe Louis denken, fürchtete der Pessimist in mir nun einen Ausgang, der an das zweite Aufeinandertreffen der beiden Schwergewichtsboxer erinnerte. Hatte uns das auf dem Papier weitaus stärkere Team von John Heitinga womöglich entschlüsselt und würde uns nun vor unser aller Augen in die Schranken weisen? Klar war nur: Union oder Ajax, einer triumphiert, der andere geht Knockout.
Wie schon so oft verdiente mein Arbeitstag nicht die ersten beiden Silben des Wortes. Ich half mir, indem ich die Stadionklamotten aufs Sorgsamste zurechtlegte. Insbesondere genug Bleistifte und gut gehende Kulis mussten dabei sein, genau wie mein Notizbuch, die beiden Strickpuppen Herr & Frau Rot-Weißi, die mir Berges Liebe Tina für Tage wie diesen gefertigt hatte, genau wie die Rot-weißen Union-Socken, dazu … Wann nur ging es endlich los!?
Endlich stand ich im Wohnzimmer, heute zum zweiten Mal in meinem Leben in Sektor 4. Beim ersten Mal hatte mich meine Union-Kumpeline Jana hierher eingeladen, da spielten wir noch 2. Liga, fernab jeder Spielklassenwechsel-nach-oben-Gedanken. Es war gemütlich zwischen ihr und ihren Freunden in der von ihnen so genannten Kicherkurve – und gestern gesellte ich mich zu Union-Kumpel Uwe, der wohlwissend einen prall gefüllten Maßbecher geordert hatte. Konnte losgehen – und das tat es!
Wir standen direkt neben dem Gästeblock, in dem die Ajax-Fans sofort laut wurden, als ihre Ersatzspieler unseren heiligen Rasen betraten. Als sich ihre Mannschaft vor unserem Tor warmschoss, gingen viele Bälle daneben, wollten die uns in Sicherheit wiegen? Die Gästefans brachten, von Trommeln unterstützt, eine Bella Ciao-Version, wow! Eine völlig neue Erfahrung für mich: Unsere Hymne gegen das gegnerische Getrommel zu singen, das selbstverfreilich einem eigenen Rhythmus folgte.
Es ging dennoch, wobei mir wieder leibhaftig klarwurde, warum dereinst Heere mit Trommler-Begleitung in die Schlacht zogen. Sterben musste gestern niemand in unserem Stadion, die Pyro-Show der Ajax-Fans – der Gästeblock „brannte“ lichterloh – war gleißend rot, doch alle Fackeln blieben, wo sie hingehören. Das kenne ich von anderen anders. Einfach nur irre stark empfand ich die Choreo auf unserer Waldseite! Über dem zweiteiligen Motto: WENN DER TRAUM WAHR WIRD / WIRD DAS LEBEN ZUM RAUSCH folgte ein Block-großes Bild dem anderen, meine tiefe Verneigung!
Dem Anpfiff folgte eines von unzähligen Gesangs-Duellen, die sich direkt neben dem Gästeblock gänzlich anders anfühlten als aus den anderen Stadion-Sektoren oder am Fernseher. Drangen die Gesänge von Waldseite und Gegengerade nicht durch, verpassten wir den Gäste-Songs die uns geläufigen Texte. Amsterdamer Bella Ciao gegen „Und wir lieben unsern Club, …“, während sich Ajax auf dem Rasen verdammt angriffslustig zeigte. Weil unsere Gäste es nach gewonnener Platzwahl so wollten, mussten Unsere falschrum spielen. So hatten wir Frederik Rønnows Gehäuse direkt vor uns.
Ecke Ajax – knapp daneben, schnauf! Ajax presste, Ajax griff an – schon sind sie fast durch, aber eben nur fast. Den nächsten Ball pflückte unser wackerer Keeper sicher aus der Luft, vor uns erklang der Bundesliga-Song. Es tat gut, gegen das feindliche Getrommel anzusingen, auch in das anschließende „Hier regiert der FCU!“ fielen wir dankbar ein. Ist wirklich nicht einfach, aus Sektor 4 mitzusingen, wenn die Rhythmus-gebenden Trommeln der eigenen Leute so weit weg und die gegnerischen so nahe sind.
Unsere greifen an, leider verspringt ihnen der Ball, weiter! Nun haben auch wir eine Ecke: „Hinein, hinein, hinein!“ – „Auf geht’s, Unioner schießt ein Tor!“ Der Ball kommt in den Sechzehner – das war doch Hand, aber so was von! Den Schiri interessiert es nicht, doch schließlich bekam er wohl doch den Wink ausm Keller, er möge doch bitte mal Fernsehen gucken. „Union, Union!“, „und ihr macht unsern Sport kaputt“, dann Stille. Der Mann guckt und guckt auf den Regenschirm-geschützten Bildschirm.
Dann sieht auch er: Elfer für Union! Ein Fall für Dr. Knoche. Team Ajax antwortet mit verstärkter Rudelbildung, von den Rängen erwidert mit: „Auf die Fresse! … Hier regiert der FCU!“ Ich bete um die Stärke von Robins Nerven. Er läuft an, schießt – der Keeper hat die Ecke, ist noch dran, aber drin ist er! „Tor – für den 1. FC Union Berlin!“ Auch in Sektor 4 fliegen die Biere, Uwe und icke liegen einander in den Armen, „und niemals vergessen – Eisern Union!“
Ajax attackiert, wir kriegen den Ball nicht weg, endlich doch! Ajax kommt auf links, auf rechts, und direkt neben uns erklingt: „Wo du auch spielst, ja wir folgen dir, und ist der Sieg auch noch so fern!“, nur eben auf Niederländisch. Fern ist unser Sieg tatsächlich noch, denn das Spiel ist noch verdammt jung. Zu jung für meine Nerven? Egal, weitermachen! Wieder brennts in unserem Strafraum, aber immer ist mindestens ein Eisernes Bein zur Stelle. Uwe und ich stimmen in den Schalgesang ein, der seit Minuten zu uns herüberweht.
Gelb für Danilho (erst später sehe ich, es ist bereits die vierte Karte in diesem Spiel), Freistoß Ajax aus bester Position! Uwe beruhigt mich, es sei tatsächlich ein Foul gewesen. Meine Knie zittern, doch Frederik fängt die Pille in all seiner Keeper-Ruhe. Ajax zeigt weitere Angriffe, einer endet nach einem Missverständnis in unserem Toraus. „Eisern!“ „Union!“, „kämpfen und siegen!“, „Wir sind die Kranken“ – ich klammere mich an jeden Gesangsfetzen, dessen Rhythmus zu uns rüberkommt. Mist, Ajax ist durch, unser Tornetz zappelt, der Gästeblock jubelt.
„Der Linienrichter hatte sofort die Fahne oben!“, beruhigt mich Uwe, bevor er hinzufügt: „Aber siehste, so schnell kanns gehen!“ Genau jetzt müssten unsere zurückschlagen, gedankelt es hinter meiner Stirn – und unsere Fußballgötter!? Sie greifen an, Gestocher im gegnerischen Strafraum. Unsere bleiben am Ball, welcher schließlich den Weg zu Juranović findet. Ein paar Meter vor dem Sechzehner zieht Josip ab, wieder ist der Torwart dran – und auf ein Neues machtlos! Der Irrsinn inklusive Bierdusche geht in die nächste Runde!
Wir führen 2:0, ab in die Halbzeitpause mit: „Und wir lieben unsern Club, und wir sind stolz auf ihn: FC Union aus Berlin-Köpenick!“ 30% Ballbesitz, gefühlte 2 Torschüsse (die Statistik vermeldete 3) – und alle beide versenkt, ist Union irre geworden? Sind wir doch alle längst, untermalt von: „FCU, FCU in Europa / FCU, wir sind da, na klar / FCU, FCU und Europa / FC Union international!“
2. Halbzeit, Ajax in unseren Strafraum, und ehe wir uns versehen, landet ein aus der Ferne aberwitzig anzusehender Kullerball in unserem Tornetz. Der Gästeblock explodiert, seine Mannschaft hatte bereits kurz nach Wiederanpfiff zurückgeschlagen – und unsere Fußballgötter? Die verlegten sich umgehend auf konsequenteste Verteidigung. Und wie heißt die? Angriff natürlich! Ecke Union, noch eine Ecke – und ja verdammt, drin ist die Pille, die Zwei-Tore-Führung umgehend wiederhergestellt!
Ajax holt umgehend selbst eine Ecke, Abschluss – drüber! Sie sind und bleiben am Ball, hin und her geht’s vor unserem Tor, aber nur höchst selten gelingt ihnen ein Abschluss. Leider ist noch immer verdammt lange zu spielen, also los: „FCU, FCU in Europa … FC Union international!“ Unsere mal im Angriff, dann wieder Ajax. „Wir lieben Union, jawoll!“ unterstützen wir die Gegengerade im Wechselgesang. Singen ist allemal besser als bangen. Der Ball klatscht an unseren Pfosten!
„Schwein jehabt!“, feixt Uwe, und Urs wechselt doppelt. Ajax trommelt, Ajax baut auf, doch kurz vor unserem Tor ist Schluss. Entlastung erfolgt, wenn dann gefühlt immer über Flügelflitzer Sheraldo Becker. Drei Tempoläufe kurz hintereinander, Sherry muss durchschnaufen. Er wirkt völlig ausgepumpt – bevor er das nächste Mal startet. Oft ist er zu schnell für seine Mitspieler, also sucht er auch mal den Abschluss aus spitzestem Winkel. Bringt heute keinen Torerfolg, aber Zeit! Nachdem er im Alleingang fast sein Tor erzielte, darf er raus, und noch 5 plus X bis Buffalo!
Schon wieder sind sie vor unserem Tor, unser Mantra erklingt. Ecke Ajax – nüscht! 4 Minten Nachspielzeit. Zunehmender Frust bei Ajax‘ Spielern, während der Gästeblock unablässig weitertrommelt und singt. Der Schiri – bei weiteren Ajax-Handspielen weitestgehend blind – will kein Ende finden. Rudelbildung, Gelb-Rotes Karten-Füllhorn für Ajax, dann endlich nur noch Party für alle, die Eisern sind! Was für eine irre Mannschaft, was für ein Feuer von den Rängen, und noch immer trällerts in mir: „FCU, FCU in Europa…“, Eisern heißt dit!
Wer: Christopher Busse (35)
Wann:16.11.2024