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Bildquelle: Tobi Olschewski [], (Bild bearbeitet)
„Wir werden am Ende alle verlieren.“ Schon lange nicht mehr konnte ich meinem Lieblingsfeind Knut Beyer derart zustimmen. Und doch wir nach dem Spiel einer von uns beiden jubeln. Der Herthaner in dritter Generation meinte mit diesen, am Abend vor dem Pokalderby geäußerten Satz, dass das Pokalderby nicht vor der Kulisse stattfindet, die es verdient hätte. Er meinte den Umstand, dass viele von uns etliche Freunde, die wir zumindest am Spieltag regelmäßig sahen, mittlerweile aus den Augen verloren.
Dessen ungeachtet mussten wir uns alle diesem Pokalderby stellen, und ich bin sehr froh, dass unser Trainer Urs Fischer heißt. Wie auch immer die Umstände sind, du „musst es annehmen, so wie es ist!“, stellte er auf der Pressekonferenz vor dem Spiel klar. Auf die auf derlei Veranstaltungen unvermeidliche Frage nach der Favoritenrolle erwiderte er: „Wir müssen vieles richtig machen, um hier ‘ne Chance zu haben.“ Wie immer stellt er die Arbeit klar vor jede Kaffeesatz-Leserei: „Ich konzentriere mich auf meine Mannschaft, dass die ans Limit geht.“
Das alles waren Sätze, die einen passionierten Pessimisten wie mich einmal mehr davon überzeugten, dass er der derzeit beste Union-Trainer aller Zeiten ist. Als äußerst wohltuend empfand ich zudem, dass er die allgegenwärtige, für mich überaus öde Frage nach der Nummer 1 mit der trockenen Bemerkung abschmetterte, das habe keinen Einfluss auf das Spiel wie dessen Ergebnis. Dem Aufeinandertreffen beider Mannschaften sah ich ab dem morgendlichen Zähneputzen trotz allen Gegebenheiten zunehmend angespannt entgegen.
Das Schlimmste für mich: Wie dicke es auch kommt, ich habe keinerlei Chance, vor Ort alles für unsere Mannschaft zu geben. Umso größer meine Hoffnung, dass die vielleicht 200 anwesenden Unioner im elend hallenden Olympiastadion alles raushauen, was ihre Stimmbänder an Sangeskraft hergeben. Immerhin würden viele von uns das Spiel in bester Gesellschaft verfolgen – ich aus Gründen immerhin vor meinem Rechner. Nicht der Fußball, den ich liebe – aber siehe oben.
Ist schon verrückt, dass wir – anders als am für mich bis zum letzten Atemzug unvergessenen 5. Februar 2011 – nicht als krasser Außenseiter in dieses Duell gehen. Würde unsere Mannschaft der Umstand, dass viele Menschen sowie die Bundesliga-Tabelle sie derzeit klar vor Hertha sehen, eine lähmende Bürde auf die Schultern packen? Würde der Fakt, dass wir uns gerade in den letzten Jahren immer sehr schwer taten im Pokal, ihre Beine zum Verknoten animieren? Schluss jetzt, da sei Urs vor – wann endlich pfeift der Schiri dieses verdammte Pokalspiel an?
Dreieinhalb Stunden noch – jetzt würde ich losgehen, siehe oben! Im Vorbericht stellt „Papa“ Boateng klar, dass Hertha ganz klar…, lassen wir es gut sein. Alle Kraft den 211 Eisernen auf Rasen und Rängen! Die erwidern das „Ha Ho He“ von der Gegengerade mit „Union!“ und „Wir sind die Kranken“! Pfiffe quittieren, es kam an da drüben. Kaum ist das Spiel angepfiffen, da bedient Voglsammer Max Kruse. Der stürmt über links nach vorn, zieht ab, Herthas Keeper muss zur Ecke klären. Zwei weitere Schüsse folgen – alles in Minute 1!
Ich höre unsere 200 singen, Hertha dringt in unsre Hälfte vor. „Wir sind Unioner, wir sind die Kranken!“ Hertha flankt ins Nichts. Fehlpass Union, doch sie holen sich den Ball zurück, fast ein Abschluss. Hertha in Ballbesitz – da, wo es nicht wehtut. Dann kommen sie über links, erstmal gestoppt! „Hier regiert der FCU!“, erwidert von ein paar Pfiffen. Union am Ball, Herthaner pfeifen. „Stadtmeister!“, hauen unsere 200 raus, und schon passierts: Dominique Heintz serviert einen weiten Ball für Max, der wieder über Links, passt auf Voglsammer …
Der spitzelt das Ding im weiten Bogen um Herthas Keeper herum ins Netz – wir führen! Lauter Jubel aus Richtung Marathon-Tor, in meinem Zimmer, im Marinehaus, an so vielen Orten! Auch in den USA jubeln Unioner, 11. Minute, was für ein Start! Sofort erklingt wieder „Stadtmeister, Berlins Nummer 1“, doch der Treffer wird noch gecheckt. Nix da, das Tor zählt, „Wir sind Unioner, wir sind die Kranken!“ Jetzt nicht mal mehr Pfiffe von schräg gegenüber.
Hertha wieder in unserer Hälfte, fast vor unserem Tor! Unsere stehen tiefer, geht das gut?“ Die 200 lassen unseren Verein hochleben, und die 11 aufm Rasen greifen an! 15. Minute, Gelb für Hertha! Ryerson wirft falsch ein, „Übertreten“, kommentiert der Kommentator. Gewusel in der gegnerischen Hälfte, Fernschuss Union, drüber. „Wir fahren nach Berlin!“, singt jetzt wer? Voglsammer über rechts – schade, seine Flanke landet in den Armen des Keepers. Unsere singen Lied auf Lied, lassen die „Alte Försterei!“ hochleben. Der frisch verlegte Rasen aus Österreich sieht klasse aus.
„Es ist cool gespenstisch und geil hier!“, schreibt mir der Taz-Unioner, „“ein Zeitsprung in alte Zeiten. Aber Union führt.“ Hertha ist fast durch, Union startet beinahe einen Konter. Wir erkämpfen eine Ecke, „auf geht’s Unioner, schießt ein Tor!“ Machen sie leider nicht, Grischa rutscht aus. Nächste Ecke, leider nichts. 29. Minute, fast ein Torschuss von Hertha, und schon wieder sind sie in unserem Strafraum! Wüstes Gestocher, endlich schießt einer den blöden Ball da raus, aber sie kommen schon wieder.
Jetzt wieder wir: Flanke von rechts, geblockt von einer blauen Hand, der Schiri pfeift Elfmeter! Aber wieder wird gecheckt, sie entscheiden auf Abseits. Hauchdünn zwar nur, aber sollen sie, weiter geht’s! Hertha übernimmt wieder die Initiative, bestürmt unseren Strafraum. Zwei Ecken, Kopfball ans Außennetz, sie nehmen Maß. „Und wir lieben unsern Club, und wir sind stolz auf ihn“, kommentieren die wackeren 200. Die Blauen rennen weiter an, „bitte kommt mit dem 1:0 in die Pause“, flehe ich Richtung Laptop.
Luthe fängt den Ball, kurzes Aufatmen. Union greift an – Mist, Hertha kontert! 39. Minute, es erklingt unser Mantra. Kampf um jeden Ball, Mist: Ballverlust, gelbe Karte, Hertha-Freistoß aus guter Tusche-Position – direkt in Luthes Arme! Kruse über links – schade, und wie lange kann Max noch? Hertha greift an, die Befreiung über links klappt nicht. Ein Blauer überwindet 3 Rote, passt – das Tornetz zappelt! Die da drüben jubeln nur kurz, denn der Linienrichter hebt sofort die Fahne. Wieder Check – ja verdammt, es WAR Abseits, Pause!
Haben sie uns jetzt am Allerwertesten? Hertha bringt 2 Neue, „Union!“ kommts vom Marathon-Tor, als unsere Mannschaft den herrlichen Rasen betritt. „Hier regiert der BSC!“, schallt es durchs Oval, und Hertha klärt unseren Angriff, greift selbst an: über rechts ins Zentrum, der Schuss geht zum Glück drüber. „Ha Ho He – Hertha BSC!“ bleibt die Gegengerade am Drücker. Unsere werfen sich dazwischen, Heintz schießt beherzt nach vorn zu Max, der köpft rechts raus zu Öztunali, welcher in die Mitte gibt, wo mal wieder Andreas Voglsammer lauert.
Der kommt gar nicht selbst an den Ball, zwingt aber den ich bewachenden Herthaner zum Schuss in die eigenen Maschen – Ekstase allerorten, wo Unioner sind, wir führen 2:0 in der 50. Minute! „He FC Union“ wie das unvermeidliche „Stadtmeister!“ Union im Vorwärtsgang, Konter Hertha, erst einmal abgewehrt. Sie bekommen eine Ecke zugesprochen. Die wehren wir ab, Neuaufbau hinten herum. Hertha über links, spitzester Winkel – aber drin ist der Ball, ebenfalls erzwungenes Eigentor, Mist! Die Beschallungsanlage plärrt ostig anmutendes Dorfrummel-Gedudel, am Ende immerhin das „Ha Ho He“!
Union antwortet mit dem nächsten Angriff, den Hertha zunächst durch ein Foul stoppt. Freistoß Union, wunderschön in den Strafraum, wo Abwehr-Recke Robin Knoche angenehm freisteht und die Pille wunderschön an den Innenpfosten schlägt, von wo aus sie, herrlich anzusehen, im Netz einschlägt! Was für eine Antwort, „Eisern Union!“ Unsere singen, mittlerweile wieder ganz allein. Max ist durch – schade, sein Pass kommt nicht an. Jetzt das 4:1, und selbst ich wäre ruhig.
Hertha über links, Hertha Freistoß in die Mauer, unsere singen. Dann brennt es wirklich in unserem Strafraum, endlich hat Andi Luthe den Ball. Ein paar Minuten später kommen sie über links, ein Herthaner fällt, will er einen Elfmeter? Nicht mal nen Check gibt’s. „Wir lieben Union, jawoll“, doch unser Angriff über links verebbt. Hertha baut auf, muss hinten herumspielen, erntet Pfiffe seiner Anhänger. Immer wieder bauen sie ihr Spiel auf, immer wieder wehren unsere ihre Angriffe ab.
Quälend langsam ticken die Sekunden herunter, gerinnen schlussendlich zu Minuten. Urs bereitet den mittlerweile zweiten Doppelwechsel vor. Erst jetzt kommt der Käpten ins Spiel, zusammen mit Flügelflitzer Sheraldo Becker. Derweil schießt Hertha aus dem Halbfeld in unser Toraus, ich hab nichts dagegen. Union über rechts, Ecke! Die wehren sie direkt ab, aber unsere kommen erneut, jetzt Becker über links. Er bringt den Ball wunderbar ins Zentrum, wo Prömel auf Behrens durchsteckt, der leider wegrutscht, was für eine Chance!
74., jetzt kommt auch „Papa“ Boateng. Angriff Hertha, Konter Union – Abseits, sieht nach Fehlentscheidung aus. Hertha behauptet den Ball, doch immer sind Eiserne im Weg. Kommen sie durch, liefert Andi Luthe eine Parade. Missverständnis Hertha, der Kommentator bemerkt „vorwurfsvolle Blicke“, fügt hinzu: „So etwas sieht man bei Union gar nicht!“ DAS macht uns stark, die Solidarität, wie Urs in der PK herausstellte. Die gilt nicht nur aufm Platz. Und wo ist der Kampfgeist der Herthaner auf den Rängen? Alle schon nach Hause, unterliegen sie einem Sing-Verbot?
Unbarmherziger Kampf an der Linie, Becker setzt sich gegen „Papa“ durch. „Stadtmeister!“ Hertha baut auf – Luthe hat ihn. „Und wir lieben unsern Club, und wir sind stolz auf ihn!“ Haben sie die Stadion-Tore aufgemacht? Unsere 200 werden immer lauter, und Boateng foult Behrens. Wertvolle Sekunden, und noch immer ist das Spiel nicht vorbei. Sie greifen weiter an. Ist ein Unioner ausgespielt, hilft ein anderer aus. Mittlerweile läuft die Nachspielzeit: 4 Minuten! Ecke Hertha, sie kommt gefährlich in den Strafraum.
Luthe ist geschlagen, ein Unioner kratzt den Ball von der Linie, genau wie den Nachschuss, doch der hatte selbige bereits überwunden. Hertha verkürzt, erneut dudelt die Stadionanlage ostiges Eia-Popeia-Rumsbums. Welche Ironie, denn das Spiel ist kurz nach Wiederanpfiff AUS; AUS, DAS SPIEL IST AUS! Der Himmel schickt den unvermeidlichen Oly-Regen, und alle Unioner feiern diesen wunderbaren Sieg. Herzlichen Glückwunsch, geliebter 1. FC Union Berlin zum Sieg – und nun auch zu Deinem 56. Geburtstag. 211 Eiserne gaben alles, Eisern Union!
Wer: Jérôme Roussillon (32)
Wann:07.01.2025