Frank Nussbücker: Union erkämpft in Neapel den ersten Champions League-Punkt

Union Remis bei SSC Neapel

Bildquelle: Harleypaul on Tour [], (Bild bearbeitet)

„Die Situation, ... Entschuldigung, ist im Moment wirklich beschissen. (…) Aber trotzdem, es gilt, nach vorne zu schauen, wieder aufzustehen!“ Wie liebe ich unseren Trainer für die kompakte Klarheit seines Ausdrucks! Und wie nahe fühlte ich mich ihm in seiner Unruhe während der langen Übersetzungspausen in der Pressekonferenz. Da erinnerte er mich an einen Boxer, der vor dem entscheidenden Meisterschaftskampf die Nennung all der Sponsoren und sonstigen Honoratioren über sich ergehen lassen muss.

Klar bin ich traurig, dass mir vor allem die Zeit und ein wenig die Penunze fehlten für die Reise in diese verrückte Stadt nahe Pompeji. Als ich vor fast 30 Jahren dort war, faszinierte mich besonders die Sanità. Schon damals warnte man Touris vor einem Besuch im „Bauch der Stadt“, also musste ich dorthin und hatte zusammen mit meiner damaligen Jeliebten daselbst wunderbare Gespräche mit den Einheimischen. Die wollten weder meine Brieftasche noch meinen nicht vorhandenen Schmuck, sondern wissen, was los sei in Berlins Osten.

Lebensfreude statt Frust

Damals kam ich nicht auf die Idee, mir vorzustellen, dass der 1. FCU eines Tages dort zum Punktspiel des höchsten europäischen Clubwettbewerbs, seinerzeit noch Europapokal der Landesmeister geheißen, anzutreten hätte. Gestern nun sah ich die Bilder marodierend durch die Innenstadt ziehender Weißjacken, die dabei auch noch „Eisern Union“ brüllten. Auf der anderen Seite schrieben Unioner über einen Überfall auf ihren Fanclub, diverse Widrigkeiten beim Einlass …

Und dann war da ja noch unsere Gesamtsituation, von Urs so treffend zusammengefasst. Späti-Hannes bemerkte dazu: „Einfach mutig sein, was soll uns jetzt noch passieren?!“, und ich beschloss, ganz allein mit mir dieses Europapo-Spiel meines Vereins zu genießen. Wann würde ich jemals wieder in diese Verlegenheit kommen, außerdem hatte Urs ja bemerkt: „Wir müssen versuchen, es zu genießen!“ Nur mit der nötigen Freude und dem damit verbundenen Spaß spielt unsere Mannschaft erfolgreich Fußball, finde ich Erfüllung in diesem meinem Leben.

Unter Beschuss

Der Abend begann dann allerdings doch mit Frust: Torsten Eisenbeiser und seine Mannen würden nicht rechtzeitig im Stadion sein. Die Polizei hielt seit einer Stunde 5 Busse mit Unionern auf. Kaum ist das Spiel angepfiffen, höre ich im Radio Böller-Gewumms. Die Reporter vermuten zunächst die Unseren als Übeltäter, dann erkennen sie: Die Böller werden von Neapolitanern auf unseren Block geworfen! Die Dinger klingen verdammt nach Schüssen, wie ich sie aus meiner sch… Armeezeit kenne.

Der Schiri lässt das Spiel laufen, und unsere Auswärtsfahrer „wehren sich mit Sprechchören“ gegen den Böller-Beschuss. Auch Neapels Fußballer schießen, zunächst treffen sie unser Außennetz, holen die erste Ecke. Weitere sollten folgen, Abschlüsse inbegriffen. Einmal ist der Winkel zu spitz, ein anderes Mal rettet Haberer. „Union schwimmt!“, vermelden die Radio-Kommentatoren, Böller wie Ballbesitz nach wie vor bei Neapel.

„Selbst als Niederländer darf er den nicht geben!“

Der Ball knallt an unseren Pfosten, die nächste Ecke faustet Rønnow aus der Gefahrenzone – nächste-nächste Ecke. Roussillon rettet in letzter Sekunde, dann fast ein Konter der Unseren. Die Neapolitaner sind nicht nur im Böllerwerfen die klar Besseren – und nein, der Ball landet in unserem Tornetz! „Aufgestützt!“, ruft einer der Radio-Kommentatoren. „Das kann er doch nicht gelten lassen!“, urteilt der andere.

 

 

Ungerührt startet das Tor-Gedudel, verkündet der Stadionsprecher den Schützen – endlich der Hinweis: Goal Check, begleitet von weiteren Knallern der heimischen Knallköppe. „Er MUSS den Treffer aberkennen!“, beharren die mir nicht erst jetzt äußerst sympathischen Radio-Männer, „wenn das ein Tor ist, verstehe ich die Welt nicht mehr!“ Sein Kollege meint, dass bei der Entscheidung auf Tor, Schiebung im Spiel sein müsste. Der Schiri indes guckt aufreizend lange Fernsehen. „Selbst als Niederländer darf er das nicht geben!“

Mein Nachbar ist endlich im Stadion!

Alles klar, das Tor zählt tatsächlich nicht. War jetzt etwa nicht nur ich auf einmal zu sehr erleichtert? Wie auch immer, Neapel schießt dann doch das Führungstor – und ja, bei uns lief nach wie vor nicht viel zusammen. Sollte das jetzt echt die nächste Folge unserer schwarzen Serie sein? Nee, oder? Kurz vor Ende der fünfminütigen Verlängerung Freistoß für uns aus guter Position. Ich will schon abwinken: Ist doch eh nicht mehr unsere Stärke, da knallt Juranović das Ding an den Pfosten!

Unsere beste Chance, Eisern Union! Etwas in mir glaubt plötzlich – und mitten in einem Spiel, bei dem uns der Gegner fest im Griff zu haben scheint – wieder daran, dass hier und heute doch noch was geht. Immerhin ist nun auch Mittellinien-Nachbar Torsten Eisenbeiser im Stadion dabei, ein weiteres Foto zeigt Christian Schnuppe – alles klar, da kommt noch was! Unsere Szene befände sich allerdings auf dem Heimweg, dennoch waren die Unseren bislang gut zu hören.

Union schlägt zurück

Lauter Kleinigkeiten ergeben das ungute Ganze, fassen die Kommentatoren unsere letzten Monate zusammen, meinen aber wohl speziell dieses Spiel. Neapel drückt weiter, da haut Roussillon den Ball weit nach vorn. Was zunächst wie ein reiner Befreiungsschlag anmutet, erweist sich als genialer Pass in die Spitze, wo Fofana dankend übernimmt. Schnell macht er etliche Meter aufs gegnerische Tor zu, passt zum mitgelaufenen Sturmpartner Becker!

Unser Becker-Meister zieht ab, der Torwart pariert – aber nur vor die Füße Fofanas! Der zeigt sich jetzt eiskalt und netzt das Ding ein – Union ist zurück, der Gästeblock und weitere zehntausende Unioner jubeln, wo auch immer sie jetzt dieses Spiel verfolgen! Die Hausherren antworten sofort, Ball abgefälscht, nächste Ecke! Die spielen sie kurz, Kopfball – Rønnow! Nun greifen Unsere an, holen ebenfalls einen Eckball – schade, Fofanas Kopfball sei nicht gefährlich gewesen.

Sekundentraum vom Sensationssieg

Neapel über links, dann fast ein Unioner Konter. „Dem Morgengrauen entgegen!“, schallt es von den Rängen, zwischendrin wieder der „Gesang“ babyblauweißer Knallköppe, eskortiert von wütenden Durchsagen des Stadionsprechers. Inmitten einer solchen lauerte in Halbzeit 1 höchste Gefahr. Auch jetzt ist es wohl an dem, doch Laïdouni macht einen Fehler wett, bolzt das Ding aus der Gefahrenzone. Wieder wirbelt Becker vorn, der Keeper kann klären. Die Knallköppe pupsen weiter, unser Torwart erweist sich als sicherer Rückhalt.

 

 

„Wir lieben Union, jawoll!“ Wie lange haben wir das AdAF nicht mehr gesungen?! Neapel kommt, Union kontert, immer wieder stressen Becker und Fofana die gegnerische Abwehr. Ganz kurz male ich mir aus, wie es wäre, würden sie es noch einmal knallen lassen … Union lebt, auf Platz, Rängen – überall! Neapel scheint doch merklich verunsichert, längst klappt es nicht mehr so gut wie noch in Durchgang 1. Oh bitte Unioner, lasst euch das nicht nehmen!

Wie lange noch!?

In Neapel habe die Presse Häme und Spott über uns verbreitet – nur zu, ihr Luschen! Aber die Blauweißen aufm Rasen greifen jetzt wieder verstärkt an – am Ende jedoch meist nicht zwingend. „Lasst euch nicht einlullen!“, schreie ich Richtung Laptop. Aus dem erklingt der Damir-Kreilach-Song, wie ich unseren Erinnerungsgesang an Liga 2 nenne. Ich mag Damir, mag das Lied, aber der abergläubische Profi-Pessimist erinnert mich daran, dass wir kürzlich mitten in idesem Lied einen unserer Gegentreffer fingen!

Neapel über links, über rechts, dann wieder Fofana, Ecke für Union! Dann werden die Hausherren doch noch gefährlich: Ein fieser Kopfball, Freddy wäre geschlagen gewesen! „Und wir lieben unsern Club, und wir sind stolz auf ihn!“ Der Druck der Babyblauen nimmt zu, und warum dauert dieses Spiel noch so lange? Mit Anpfiff befinde er sich stets „im Tunnel“, hatte Urs verraten. Genau da befinde auch ich mich längst – in dem mir so vertrauten Tunnel namens: Wie lange noch!?

Einer für alle – Union!

Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr, aber weiter geht’s! Neapel greift an oder kontert, hin und wieder Entlastung. Meine Kommentatoren schwärmen von der Zusammenarbeit unserer Mannschaft: „Sie geben sich Szenenapplaus für jede Rettungstat!“, schwärmt einer der beiden, und auch ich bin glücklich. Das ist wieder meine Union-Mannschaft, wie ich sie so irre gern sehe: Einer rennt, ackert, kratzt und beißt für den anderen, Eisern heißt dit! Die reguläre Spielzeit ist rum, es gibt 7 Minuten drauf!

„Wo nimmt er die her!“, empört sich einer meiner Radio-Helden, und ich bin mir gar nicht mehr so sicher, ob ich dieses Spiel tatsächlich überlebe. Jede gerockte Minute wird mir angesagt, und Neapel greift an! 4, 3, 2, 1 – längst sind die 7 Minuten rum, da gibt’s noch eine Ecke gegen uns. Nee, oder? Bittebitte nicht heute! Jawollja, unsere Mannen halten Strafraum wie Kasten sauber, wir gewinnen das Spiel mit 1:1, allen Unkenrufen zum Trotz. DAS war und ist mein Union – ich hab’s also doch überlebt und unsere Mannschaft feiert mit den Auswärtsfahrern und allen Unionern der Welt, wo auch immer sie jetzt sind.


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