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Bildquelle: Harleypaul on Tour [], (Bild bearbeitet)
Vor dem 1. Spieltag dieser Saison tönte es aus dem Lager der Blau-Weißen, dass wir offenbar Angst hätten, gleich zu Saisonbeginn eine ordentliche Klatsche vom Stadtrivalen zu fangen, dem „einzig wahren Hauptstadtclub“, um hier mal nicht die von deren Vereinsführung zeitweilig neu aufgelegte Version der Abkürzung BSC zu verwenden. Die englischsprachige Hipstervariante wurde mittlerweile von den Charlottenburgern gekippt.
Zwischen den beiden Clubs hat sich jede Menge geändert. Niemals vergesse ich, wie wir am 5. Februar Anno 2011 mit gut 20.000 „Galliern“ Rasen und Ränge das gewaltig großen Berliner Olympiastadions rockten. Hertha begann so souverän, wie es ihrem Kader-Marktwert entsprach, bevor Mosquito und Tusche die Tore für uns schossen. Tusches Freistoß sangen wir mit ins Tor und feierten wie irre unseren sensationellen Sieg. Die Zeiten derartiger Sensationen sind längst passé.
Als Dörfler oder Waldmenschen bezeichnen uns viele Herthaner noch heute gern, doch derzeit sind wir, zumindest was den Marktwert unserer Mannschaft angeht, im Vergleich mit unserem Charlottenburger Nachbarn längst die Römer. Laut transfermarkt.de stehen wir mit aktuell 119,90 Millionen Euro auf Platz 12, Hertha mit 97,95 Millionen auf Platz 15 der diesbezüglichen Bundesliga-Tabelle. Rein sportlich lagen wir vor Anpfiff deutlich weiter auseinander, und die Ewige Berliner Stadtmeisterschaft beherrschten wir inklusive Pokal mit 21 zu 12 Punkten.
Wie schnell horrende Markwerte aufm Platz auf Flaschenpfand-Niveau verfallen können, erlebten wir in so manchem Duell gegen stinkreiche Konkurrenten. Gerade als „Gallier“ erzielten wir unsere ruhmreichsten Siege. Auch daher machte mir Profi-Pessimisten und furchtsamem Menschen die Ausgangssituation vor diesem Derby einige Sorgen. Zur Erinnerung: Vor unserem sensationellen Sieg am 5.2.2011 beherrschte Hertha die Liga, während uns ein gewisser SC Paderborn gerade AdAF mit 0:2 abgeschossen hatte.
Was Mannschaft und Stab angeht, war ich die Ruhe selbst. Uns Urs würde in jedem Fall dafür gesorgt haben, dass niemand auch nur ansatzweise auf die Idee kommen könnte, das sei hier eine sichere Sache. Was uns Eiserne auf den Rängen anging, sah das zumindest teilweise anders aus. Da wurden schon gern mal Zahlenspiele betrieben, die ich so bislang nur von Herthanern kannte. Die meisten von uns wussten allerdings gut genug, dass Hochmut vor dem Fall kommt.
Nicht von ungefähr wies unser Trainer darauf hin, dass wir von den letzten drei Punktspielen im Oly zwei verloren, dass die Herthaner schnell seien und sich zum Derby garantiert anders zeigen würden als gegen VW. Apropos, Herthas 0:5 stellte er unsere Klatsche in Leverkusen gegenüber mit der im Fischerschen Duktus gehaltenen Bemerkung: „Solche Tage gibt es.“ Lange vor Anpfiff legte ich mich fest: Wir würden an diesem 28. Januar 2023 im Berliner Olympiastadion nur dann etwas reißen, wenn jeder von auf Rasen und Rängen konsequent an seine Grenzen ging.
Dass ich genau zum Derby gen Süden zu Schwiegerelterns fahren würde, wurde mir schmerzhaft bewusst, als ich aus dem Hauptbahnhof zwei Herthaner kommen sah. Nun, ich war nicht der Einzige, der heute weder im städtischen Olympiastadion noch in unserer Stadt sein würde. Viele Exiler würden in der „Fremde“ gucken, Lieblingswirt Ingo und seine Liebe in Thailand, Torsten in Indien, Jeff daheim in den Staaten und Thomas in seiner Straßenbahn, in der er viele von uns Richtung Kampfplatz kutschieren würde.
Matti sah das Ganze in der. Klinik, ihm und alle anderen, denen es ähnlich geht, von hier aus beste Genesung und überhaupt nur das Allerbeste gewünscht! … Bitte nicht schon wieder erstmal ein Gegentor fangen, schoss mir Urs‘ Warnung durch den Kopf. Zeigen wir unser Gesicht, aufm Patz und den Rängen, auf denen vielleicht 15.000 Eiserne unsere Mannschaft unterstützten. Bilder und Filme im Netz ließen mich dabei sein, links und rechts des Marathontors.
Als unsere Spieler die Katakomben verließen, liefen sie sofort zu den Blöcken der Unseren und wurden kaum weniger lautstark begrüßt wie daheim AdAF. Die Schüssel kochte, die Herthaner zeigten eine in jedem Fall aus der Ferne sehr ansehnliche Choreo. Aufm Platz agierten die Hausherren forsch und kämpferisch. Beide Abwehrreihen ließen zunächst wenig zu. Herthas Konter, abgeschlossen durch Richter, markierte die erste Torchance des Spiels. Die Statistik vermeldete nach 36 Minuten 4:0 Torschüsse für die Hertha.
Auf den Rängen gaben beide Lager alles, und immer wieder hörte ich unsere Auswärtsfahrer. Klar war ich traurig, dass ich nicht selbst dabei war, vor allem aber durchpulste mich Stolz. Hertha zeigte sich deutlich stärker als zuletzt. Ein Freistoß für uns, Käpten Trimmel bringt ihn nach vorn, Kopfball, Kuddelmuddel, immerhin eine Ecke. Schon erklang von den Rängen unser Mantra – richtig, die Halbzeit war fast herum.
In Minute 44 erneut Freistoß für uns. Der Käpten zimmert ihn punktgenau für unseren Abwehrriesen Danilho Doekhi, der sich prompt hochschraubt und die Murmel wuchtig ins kurze Eck köpft. Es wird sehr laut in der Schüssel, alle Unioner im Stadion und rund um die Welt rasten aus. Wir führen, im Derby, auswärts und überhaupt: Eisern Union! Nach dem Jubel wieder das Mantra, es ist jetzt sehr laut und beherrscht das riesige Oval. Hertha bekommt noch einen Freistoß, kein Abschluss, dann Pause.
Urs bringt Paul Seguin für András Schäfer, und unsere Auswärtsfahrer stellen rotglühend die Liebe zu unserem Verein ins Bild. Robin Knoche überwindet zwei Blaue, kämpfen und siegen! Dann erobert Becker den Ball, versucht zu schießen, dann kommt der Ball zu Seguin, doch dessen Flanke geht ins Leere. Rani holt sich die Gelbe ab, vorm Spiel hatte Urs auf seine außerordentlichen Leistungen hingewiesen, die längst nicht immer so sichtbar sind wie gewonnene Zweikämpfe. Assists oder Torschüsse seiner Kollegen.
Hertha am Ball, Konter Union! Behre will Becker einsetzen, wird aber geblockt. Ecke Union, Trimmi schießt in Richtung Behrens, auch den zweiten Ball wehren sie ab. Aber Unsere zeigen sich jetzt deutlich entschlossener vorm gegnerischen Kasten. Von den Rängen schallt es „Schalalalalala – Eisern Union!“ Akustisch befindet sich die Schüssel jetzt klar in unserer Hand, unsere Mannschaft schließt sich dem an. Khedira auf Roussillon, ein Herthaner ist dazwischen.
Ecke Hertha, die Ostkurve wird laut, besingt ihren Verein. Unsere klären zweimal, doch schon wieder die Blauen. Drei Flanken in unseren Sechzehner, dann fast ein Konter der Unseren. Hertha hat jetzt auch mal Platz. Sie bauen auf, müssen immer wieder hintenrum. Auf den Rängen der Schal-Gesang, eine gute Gelegenheit, Hände und Arme zu bewegen. In der 66. Freistoß für Hertha, Rønnow faustet ihn raus.
Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt. Ein Herthaner stürmt in unseren Strafraum, Rani wehrt ihn ab, bringt ihn zu Fall. Die Herthaner fordern Elfmeter, unsere kontern. Der pfeilschnelle Becker tankt sich links durch, hat verdammt viel Platz, sieht den bestens positionierten Paule Seguin, steckt zu ihm durch – und Paule lässt die Maschen tanzen. „Wie geil uneigennützig ist Becker!“, ruft später mein Kumpel Marcus. Ich schreie mein Radio an, im Oly feiern Unsere das Tor – aber klar, Videobeweis, der Schiri bekommt den Hinweis aus Köln.
Eine aberwitzige Situation: Entweder, wir führen jetzt 2:0, oder das Tor wird aberkannt, Hertha bekommt Elfmeter, und vielleicht steht es jetzt gleich 1:1! Sportschau sei Dank, sah auch ich die entscheidenden Bilder zigmal, in Zeitlupe, heran gezoomt, mit allem Pi, Pa und Po – und ich bleibe auch am Morgen danach dabei: Rani traf erst den Ball, danach leider auch seinen Kontrahenten, und es geht für mich völlig in Ordnung, dass es hier keinen Elfer gab. Und ja verdammt, wir führen, mit zwei Toren!
Es passierte noch einiges – auch auf der Gegenseite hätte es einen Elfer geben können. Der Ball sprang einem Herthaner an jenen Arm, den er benutzte, um seinen Sturz auf den Rasen abzubremsen, Frage an die Experten: Gibt es den Begriff „Abstütz-Hand“? Wie auch immer, auch diesen Elfer gabs nicht, und es geht für mich völlig in Ordnung. Hertha eroberte zweite Bälle, tauchte noch einige Male vor unserem Tor auf, doch selbst ich Profi-Pessimist hatte jetzt keine richtige Angst mehr.
Allerdings muss ich mich noch heftig bei unserem Keeper bedanken. Einen strammen Schuss von Richter beantwortete er mit einer beeindruckenden Parade, überhaupt war er stets aufm Posten und ein wichtiger Garant für unseren Sieg. Genau wie alle anderen Unioner aufm Platz und auf den Traversen. Schalgesang, Wir sind die Kranken, schließlich Sieg und der unvermeidliche und auch von mir in der Ferne heftig mitgesungene: „Stadtmeister, Stadtmeister, Berlins Nummer 1!“ 36 Punkte – mehr als nur gut, Eisern heißt dit!
Wer: Christopher Busse (35)
Wann:16.11.2024